Die Geschichte der Lost Barrels – besser wohl: der gefundenen Fässer – vom Weingut Meyer-Näkel ist spektakulär. Neun von insgesamt 350 Fässern mit den Spätburgundern des Jahrgangs 2020 wurden nach der Katastrophe im Ahrtal vom Juli 2021 unzerstört wiedergefunden. Diese neun Pinot Noirs aus diesen Fässern sind alles, was im Weingut Meyer-Näkel vom 2020er Jahrgang übriggeblieben ist. 
Die Lost Barrels Pinot Noirs stammen aus den VDP.Grossen und Ersten Lagen Pfarrwingert, Sonnenberg, Kräuterberg, Trotzenberg, Hardtberg und Daubhaus. In den regulären Handel kommen die Weine (pro Fass maximal 280 Flaschen) nicht. Interessenten können sich jedoch unter www.lost-barrels.com registrieren und erhalten so die Möglichkeit, an einem Reservierungsverfahren für die Weine teilzunehmen.
Interessant sind die Etiketten: Die wurden eigens für die Lost Barrels kreiert, die Anzahl der stilisierten Tropfen auf dem Etikett entspricht der Fass-Nummer. Und im dunklen leuchten sie…

Per Hand werden die Flaschen etikettiert – hier der Pinot Noir von Fass 5. Foto: Sandra Fehr


Ich hatte das große Vergnügen, in Berlin alle neun Lost Barrels Weine kennenzulernen. Die von mir sehr geschätzte Caro Maurer, erste weibliche Master of Wine aus dem deutschsprachigen Raum, hat ebenfalls alle neun Lost Barrels Weine verkostet. Das sind ihre Verkostungsnotizen, dazu einige Ergänzungen meinerseits: 

Fass 1

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Pfarrwingert – Fundort Dernau: „Der Wein setzt ganz auf rote Frucht, die roten Johannisbeeren und Cranberries wirken wie eingemacht und geliert. Die Würze begleitet sie mit exotischen Noten aus Kardamom, Nelke, Anis und einem Hauch Zimt, der Toast des Holzes hat auch noch dunkle Schokolade beigesteuert – sehr viele Komponenten, die gerade erst dabei sind, sich zu einem großen Ganzen zu verbinden. Im Mund zeigt sich die Reife des Jahrgangs in weicherem, fast eingeschmolzenem Tannin. Die Säure ist hier das bestimmende und auch etwas strikte Moment. Beeindruckende Länge.“ Die zarten Gewürz-Aromen fand ich sehr angenehm. Mir hat auch die Eleganz gefallen, die der Wein ausstrahlt, verschafft einem auch das Gefühl einer gewissen Geborgenheit.

Fass 2

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Pfarrwingert – Fundort Dernau: „Im Duft Eindrücke von roten Johannisbeeren und roten Kirschen, so leicht, fast schwebend, voll duftiger Unbeschwertheit. Dazwischen entdeckt man süße Momente mit Rosenpaprika und Milchschokolade. Die Frucht ist noch dabei, die Holzwürze zu absorbieren. Je mehr man dem Wein Zeit lässt, desto besser wird sich alles finden. Das reife Tannin fügt sich jetzt schon wie poliert in die samtige Textur. Die Dichte und Konzentration sind beeindruckend.“ Was für ein Unterschied zu Fass 1, obwohl aus der gleichen Lage und zur gleichen Zeit gelesen. Der Wein von Fass 2 hat eindeutig mehr Power, mehr Kraft, ist quasi ein Athlet. Liegt daran, dass Fass 2 ein neues, also ungebrauchtes Fass war. Der Einfluss des Holzes ist bekannt, dennoch im direkten Vergleich immer wieder erstaunlich.

Fass 3

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Hardtberg – Fundort Dernau: „Mit Frucht aus Schattenmorellen, reif und saftig, aber auch sehr klar und präzise definiert. Gewürzt nur von einem Hauch Wacholder, frisch gemahlenem schwarzem Pfeffer und Kardamom. Der Wein spiegelt die kühle Anmutung im Duft wider, die der Hardtberg mit sich bringt. Er liegt oberhalb des Pfarrwingerts, dreht sich dabei etwas aus der Sonne heraus. Im Geschmack kann die Säure so einen straffen Spannungsbogen aufbauen, der Gerbstoff ist feinkörnig, aber reibungslos. Damit gleitet der Wein elegant und seidig dahin, macht im Abgang dann aber noch einmal richtig Druck.“ Saftig war das erste Stichwort, das ich mir zu dem Wein notierte habe. Die Säure ist super balanciert. Schon jetzt wunderbar trinkbar, hat freilich noch ein langes Leben vor sich.

Fass 4

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Daubhaus – Fundort Walporzheim: „Sozusagen ein Teenager im Entwicklungsstadium. Der Wein trägt in sich gerade noch den Konflikt aus zwischen naturgegebener Frucht – sie erinnert an in Likör eingelegte Kirschen und frisch erblühte Kirschblüten – und Würze. Toast, Mokka und Schokolade aus den Eichenholzfässern. Ein Hauch grüner Paprika durch die Ganztraubenpressung. Am Gaumen ist der Gleichklang schon viel weiter fortgeschritten. Frucht und Würze sind eins, das Tannin ist seidig, die Säure eingeschliffen. Ein ganz eigener Typ.“ Eigenwillig, aber ein super Typ, um bei Caro Maurer zu bleiben. Habe mir erdig, kräftig, urban, notiert, dazu beeindruckende Dichte und ein satter Körper.

Fass 5

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Pfarrwingert – Fundort Walporzheim: „Derselbe Weinberg, ein anderes Fass, ein anderes Bild: Bläuliche Früchte mit Zwetschgen, Kirschen, Blaubeeren, dazu im Duft Malve als getrocknete Malvenblüten, Piment und schwarzer Pfeffer, aber auch Noten wie von frisch gespitztem Bleistift und dunklem Vollkornbrot. Im Geschmack noch jung, sehr verklausuliert, eng gesponnen um eine Achse aus fester Säure und feinkörnigem Tannin. In seiner Intensität sehr einprägsam und durchdringend, wahrt dabei aber durchgehend eine elegante Linie.“ Die Weine vom Pfarrwingert- siehe Fässer 1 und 2 – sind offenbar alle Charmeure. Auch hier hat mir sofort die Eleganz gefallen. Und wie schon beim den ersten beiden die feine Frucht-Gewürz-Harmonie.

Fass 6

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Sonnenberg – Fundort Walporzheim: „Die Parzelle liegt an einer Lössabbruchkante, und der Löss sorgt immer für eine charmante, zugängliche und freizügige Frucht. Diese hier erinnert an kandierte Schattenmorellen und in dunkle Schokolade getauchte Erdbeeren, dazu kommt eine Würzmischung aus frisch gemahlenem Pfeffer, Sojasoße, balsamischen Noten und kaltem Kaffee. Im Geschmack gibt sich der Wein sehr fein, glatt und distinguiert. Die Textur erscheint satiniert, das polierte Tannin fügt sich ein, ebenso die straffe Säure. Der Wein ist geschaffen, um zu gefallen. Alle Spannungsstränge sind jetzt schon mit sich im Einklang.“ Ein ganz anderer Stil als die vorherigen. Extrem intensiv, mit geschmeidiger Power. Liegt wohl eindeutig am Löss/Lehm-Boden, auf dem er gewachsen ist. Tim Raue kreierte dazu ein Gericht mit Taube, Johannisbeere & Kohl – eine Traumhochzeit.

Fass 7

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Kräuterberg – Fundort Bad Neuenahr-Ahrweiler: „Ein Wein wie der Kräuterberg wehrt sich zu Recht, seziert und in seine Einzelbestandteile zerlegt zu werden. Jedes Hineinriechen bringt ein anderes Ergebnis: mal Frucht aus Blutorange, dann Kirschen oder Pflaumen, mal florale Noten von Malve, dann Rosenblüten, mal mineralische Spuren aus Bleistiftspitzer, dann Grafit, mal würzige sowie Eindrücke von Kokos und Kaffee, dann dunkle Schokolade und schwarzer Pfeffer. Diese hochkomplexe Mischung ist naturbedingt: Der Kräuterberg liegt an der Talöffnung bei Walporzheim, profitiert sowohl von der Kühle, die von der Eifel naht, als auch von der Wärme, die der Rhein aus Osten schickt. Das sorgt für eine tiefgründige Vielschichtigkeit. Das Tannin darin ist spürbar, aber fein, wirkt fast sandig, die Säure zieht eine glatte Bahn. Hier reift eine große Persönlichkeit heran.“ Das einzige Fass, von dem der Finder unbekannt ist. Der Wein kommt von einer Terrassenlage. Schöne Frische, sehr komplex. Ein Wein, über den man einen ganzen Abend philosophieren kann.

Fass 8

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Trotzenberg – Fundort Bad Neuenahr-Ahrweiler: „Eine Verkostung kann immer nur eine Momentaufnahme aus dem Hier und Jetzt sein – mit einer Prognose für die Zukunft, denn es dauert noch, bis dieser Wein sich ganz und gar entschlüsseln lässt. Der Trotzenberg bietet gerade viele verschiedene Eindrücke: Da sind eingelegte rote Kirschen und Blutorange, kandierte Rosenblüten und ein würziger Hintergrund aus roter Paprika, schwarzem Pfeffer, dunkler Schokolade und Kakaobohnen. Zudem erhebt sich noch der Duft getrockneter Malvenblüten. Eine sehr komplexe Geschichte, die ihre Erzählstränge noch zum großen Roman verweben muss.“ Der Trotzenberg ist extreme Steillage. Weine von dort wurden noch nie separat ausgebaut, also eine Premiere. Sehr konzentriert, das Stichwort Marmelade fällt. Klar, der Wein braucht noch, Aber jede Wette: Es wird nicht der letzte Pinot Noir Trotzenberg gewesen sein…

Fass 9

2020er Meyer-Näkel Pinot Noir Hardtberg – Fundort Bad Neuenahr-Ahrweiler:  „Ein hedonistischer Typ, der eine reife Frucht aus Pflaume beschreibt, die von Räucherspeck- Noten eingewickelt wird. Dazu kommt ein duftiger Hauch von getrockneten Veilchen. Die Würze spielt mit Mokka und Kakao auf den Ausbau in neuem Eichenholz an. In den Geschmack mischt sich dann eine etwas grüne, leicht salzige Note ein, sie erinnert an Nori-Blätter, also getrocknete Algen, ein Hinweis auf ganze Trauben bei der Vergärung. Das Tannin ist körnig, reibt noch spürbar, der Körper ist schlank, sehnig und kraftvoll. Alles wirkt in sich verdichtet und sehr kompakt, auf Langstrecke angelegt.“ Auch der Wein erlebt seine Premiere im separatem Ausbau, war bisher immer in einer Cuvée. Wegen der doch noch auffälligen Tannine braucht er noch Zeit. Man darf also gespannt sein. Übrigens, das Fass wurde auf einem Parkplatz gefunden. Zum Glück.


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